Annemarie Große Frie, Senior Vice President for Factory Automation bei Siemens, im Gespräch
„KI ist ein Gamechanger“
Sie war die mit Spannung erwartete Keynote-Speakerin zum Thema „Automatisierung im Zeitalter von KI“ bei der #automateUPPERAUSTRIA Ende Januar. Abseits der Konferenz sprach Annemarie Große Frie, Senior Vice President for Factory Automation bei Siemens, mit dem MC-report über die Potenziale und Herausforderungen von Künstlicher Intelligenz in der Industrie.
Als Industriekonzern mit Schwerpunkt Automatisierung sehen wir den größten Nutzen in der Flexibilität. Aktuell automatisieren wir vor allem hoch repetitive Tätigkeiten. In Zukunft werden wir jedoch Lösungen für kleinere Stückzahlen und maximal flexible Produktionsprozesse haben – hier ist KI der Schlüssel.
Ein Beispiel ist der Siemens Industrial Copilot, der das Engineering erleichtert, indem er natürliche Sprache versteht. Das ist ein Gamechanger: Man braucht keinen Experten mit 20 Jahren Erfahrung, da der Copilot die Übersetzung zwischen Mensch und Maschine übernimmt.
Aber KI geht über die Produktion hinaus. Sie kann auch in Design, Operations, Vertrieb und Service eingesetzt werden. Ein vielversprechender Anwendungsfall ist das Anforderungsmanagement: KI kann Texte in maschinenlesbare Daten übersetzen und so Prozesse beschleunigen.
Wir können auf zwei tragende Säulen bauen. Erstens haben wir ein tiefgehendes Verständnis der Automatisierungstechnologie, da wir diesen Bereich seit Jahren mitgestalten – jede dritte Industriesteuerung weltweit kommt von Siemens. Zweitens verfügen wir über jahrzehntelange Erfahrung mit unseren Kunden, kennen ihre spezifischen Herausforderungen und Bedürfnisse.
Das unterscheidet uns von vielen anderen Anbietern. Zudem beschäftigen wir uns seit 50 Jahren mit KI. Wir sind nicht die, die das nächste ChatGPT für die Industrie entwickeln, aber wir können solche Technologien in den industriellen Kontext übersetzen und skalieren. KI wird dann spannend, wenn sie breit anwendbar ist und verschiedene Kundenprobleme lösen kann. Deshalb arbeiten wir mit Partnern wie Chiphersteller Nvidia oder Microsoft zusammen, um die besten Basistechnologien zu nutzen.
Entlang der gesamten Wertschöpfungskette gibt es konkrete Einsatzmöglichkeiten. In der Produktion sorgt KI für mehr Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Sie kann Prozesse in Echtzeit optimieren, indem sie Konsequenzen aus Daten direkt in den Produktionsablauf integriert. Maschinen müssen nicht mehr angehalten werden, sondern passen sich dynamisch an. Das spart Zeit und Kosten.
Ein weiteres Beispiel ist die Qualitätskontrolle: KI kann Bauteile millimetergenau auf Fehler analysieren – noch während des Produktionsprozesses. Auch vorausschauende Wartung wird durch KI optimiert. Sensoren erfassen Abnutzungsdaten, und KI kann frühzeitig erkennen, wann eine Wartung nötig ist. Das verhindert Stillstände und reduziert Ausfälle.
Ein entscheidender Aspekt ist zudem der Fachkräftemangel. KI kann weniger erfahrene Mitarbeiter unterstützen, indem sie die Bedienung von Maschinen erleichtert. Man muss nicht mehr programmieren können, um mit den Systemen zu arbeiten, denn man kann mit der Maschine sprechen wie mit einem Menschen. Das demokratisiert die Anwendung von KI und ermöglicht eine breitere Skalierung.
Das ist eine spannende Frage. Einerseits steigen mit komplexeren KI-Modellen auch die Energieverbräuche. Aber es gibt auch Hoffnung: In China werden bereits effizientere, energieärmere KI-Modelle entwickelt.
Andererseits hilft KI, industrielle Prozesse effizienter zu gestalten und so den Energieverbrauch zu reduzieren. Ein Beispiel ist die Digitalisierung von Energienetzen: Statt neue Hardware zu bauen, können wir bestehende Infrastrukturen durch Software und Algorithmen optimieren. Das steigert die Effizienz erheblich.
Auch in der Kreislaufwirtschaft spielt KI eine große Rolle. Sie kann Recyclingprozesse verbessern und Ressourcen effektiver nutzen. In diesem Kontext gibt es viele Anwendungsfälle, bei denen KI ein wichtiger Hebel für Nachhaltigkeit sein kann. Wir haben eine Verantwortung gegenüber der nächsten Generation – und auch gegenüber Entwicklungsländern, die technologischen Fortschritt erzielen wollen. Alles, was hier hilft, spielt uns in die Karten. Nachhaltigkeit ist kein einzelnes Thema, sondern das Zusammenspiel vieler Faktoren.
Ein besonders relevantes Beispiel ist „Predictive Maintenance“. Dabei werden Sensordaten mithilfe von KI analysiert, um Wartungsbedarf frühzeitig zu erkennen. Unsere Lösung „Senseye“ kann etwa Maschinendaten in Echtzeit auswerten und Optimierungen vorschlagen. Das spart Kosten und erhöht die Betriebssicherheit.
Im privaten Umfeld nehmen wir Fehler von KI-Systemen oft hin. In der Industrie ist das nicht akzeptabel. Wir müssen glaubhaft vermitteln, dass KI die Ergebnisse korrekt, transparent und vollständig liefert.
Deshalb müssen die Mitarbeiter geschult werden. Am Ende des Tages ist nicht nur die KI oder die Maschine entscheidend, sondern auch der Mensch vor der Maschine. KI ist nur so gut wie die Menschen, die mit ihr arbeiten. Es kommt darauf an, wie ich die Fragen stelle, da bereits kleine Formulierungsänderungen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Daher müssen die Mitarbeiter geschult sein und wissen, wie sie die KI-Ergebnisse bewerten sollen.
Zudem ist AI-Trustworthiness eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Wir brauchen klare Rahmenbedingungen, die den verantwortungsvollen Umgang mit dieser Technologie sicherstellen.
Annemarie Große Frie absolvierte ein Bachelorstudium in Physik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und anschließend einen Master of Philosophy in Politics an der Universität Oxford. Ihre wissenschaftliche Laufbahn führte sie unter anderem an das Max-Planck-Institut für Quantenoptik. Nach ihrer Zeit bei der Boston Consulting Group wechselte sie im Januar 2013 zu Siemens, wo sie verschiedene Positionen in München innehatte. Seit Oktober 2023 ist sie als Senior Vice President im Bereich Factory Automation tätig.